Verschiedenes Reden über Sex
„Lulu live“ von Zaimoglu/Senkel/Perceval an den Münchner Kammerspielen


Wenn an einer Inszenierung so hohe Erwartungen hängen wie an „Lulu live“, dann tut man gut daran, die eigenen spätestens an der Garderobe abzugeben. Denn entweder jemand versucht sich an dem Großen, Einzigartigen, nie Dagewesen, das von ihm erwartet wird, und scheitert oder er geht brav in Deckung und bringt irgendwas, was immer schon funktioniert hat, und enttäuscht ein bisschen.
Vor zweieinhalb Jahren kam an den Münchner Kammerspielen ein „Othello“ heraus. Den Text hatten Feridun Zaimoglu und Günter Senkel neu übersetzt und bearbeitet, Regie führte Luk Perceval. Das Ganze sorgte zuerst für einen Riesenwirbel, eine Zuschauerin schrieb in einem Leserbrief – und sprach damit einer großen Menge aus der Seele –, diese Aufführung sei eine Schande für die Stadt. Bald wurde sie allerdings zu einem Renner, ja man möchte beinahe sagen zu Kult. Zaimoglu und Senkel übertrugen die Sprache ins Jetzt, ließen die Schauspieler Worte wie „Fotze“ und „Schoko“ sagen, Luk Perceval komponierte dazu extrem minimalistische, aber wirkungsstarke Bilder. Nun hatte sich dasselbe Regie- / Autoren-Team Frank Wedekinds „Lulu“ vorgenommen. Unbearbeitet ein heikles Stück, das in der Regel im Spielplan eines Theaters auftaucht, wenn dieses gerade einen weiblichen Superstar im Ensemble aufweisen kann. Das haben die Kammerspiele durchaus mit Julia Jentsch.
Das Wedekind-Original misslingt deswegen so oft, weil Lulu so ungreifbar ist, eigentlich keine Figur, sondern lediglich eine Projektionsfläche männlicher Phantasien ist. In dem Sinn konsequent beginnt „Lulu live“ mit fünf Männern, die vor einer leeren Leinwand sitzen, man hört ein Telefonsexgespräch. Ein Mann gesteht Lulu, dass er sich verliebt habe. Dann erscheinen auf der Leinwand Buchstaben, man wird Zeuge eines Sexchats, der sich so im Moment im Internet abspielen könnte. Männer lassen sich von Lulu ihre geheimen Phantasien aus der Nase kitzeln und bekommen dafür eine onanierende Lulu vor der Webcam. Aber davon liest man nur auf der Leinwand, sehen kann man nichts. Den ganzen Abend lang reißt dieser Strom aus geilem Geflüster und Getippe nicht ab. Von den Schauspielern sieht man immer nur, was sie hinter der Leinwand tun. Sie sind bloße Schatten, erst nach und nach tauchen Bilder von ihnen, als Negativ gefilmt, hinter den Chatzeilen auf. Dazu Dialoge aus dem Off, die in einem Bordell geführt werden könnten und sich um Sex mit möglichst wenig Mensch darin drehen.
Im Lauf der Zeit entsteht ein eigenartiges Gefühl der Entfremdung. Annähernd zwei Stunden Schatten von Menschen, die durch nichts definiert sind außer ihrem Trieb. Es kommt zu bizarren Momenten. Einmal unterhalten sich zwei am Telefon Annähernde darüber, wie sie an einem Regentag aneinandergeschmiegt in ihrem Bett liegen, im Chat ist gleichzeitig davon die Rede, wie Lulu dem Mann an der Tastatur ins Gesicht pinkelt. Ein andermal simulieren zwei Schatten einen Blowjob mit Daumen und Nasenloch, übers Mikrofon reden zwei Prostituierte davon, wie es ist, alt und zum Pflegefall zu werden. Zufällige Koinzidenz von Ereignissen, die auch im Alltag denkbar wäre, jedoch hier auf der Bühne ihre unendliche Traurigkeit bloßlegt.
Vom „Othello“ vertraut, sozusagen der immer funktionierende Part, ist einmal der Versuch, mit drastischen Ausdrücken zu schockieren. Das funktioniert selbstverständlich nicht mehr. Wer „Fotze und Schoko“ schluckt, ist mit „pissen und lecken“ nicht aus der Fassung zu locken, auch die Schilderung einer Schulmädchenverführung ist eher vorhersehbar als schlimm. Zum anderen arbeitete Luk Perceval auch bei „Othello“ viel mit Gegenlicht, hatte über weite Strecken wandelnde Schatten auf der Bühne. Das ist hier ähnlich. Neu ist hier die Konsequenz, die nochmalige Steigerung der Strenge. Wie lang es dauert, bis das erste Gesicht, das von Hildegard Schmahl, schrecklich in dieser Negativfärbung anzusehen, auf der Leinwand auftaucht!
Am Ende ist alles nur noch eine Variation auf ein Thema von Wedekind, das – großer Witz der Veranstaltung – Julia Jentsch überhaupt keine Gelegenheit bietet, der Star vor irgendeinem anderen Schauspieler zu sein. Die Unbedingtheit des Abends ist einerseits beeindruckend und lässt einen diesen verzweifelten Schrei, hier endlich rauszuwollen aus dieser Leere, gelegentlich im Mark spüren. Auf der anderen Seite sorgt sie auch für eine Sterilität, die einen, wenn Lulus großes Gesicht als letzte Einstellung auf der Leinwand weggeblendet ist, auch eigenartig unberührt nach Hause schickt. Keiner enttäuscht, keiner wahnsinnig glücklich.

Willibald Spatz
22. Oktober 2005

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