Willibald Spatz - Der neue Umtrieb

1









Der neue Umtrieb

Das deutsche Theater repolitisiert sich







Es ist spät, die meisten sind erschöpft, das Theater ist vorbei. Einige hängen noch beim letzten Publikumsgespräch des „Radikal Jung“-Festivals mit Florian Fiedler nach dessen „Nieder Bayern“ im Münchner Volkstheater. Dafür hat er Probleme bekommen, weil er gekürzt hat und angeblich entschärft, schließlich gehe es in den „Jagdszenen aus Niederbayern“ von Martin Sperr darum, der spießigen Landbevölkerung der späten vierziger Jahre mal so richtig den Spiegel vorzuhalten. Darin habe Florian Fiedler versagt, den Spießern von vor fünfzig Jahren zu zeigen, dass er immer noch gegen sie sei und deshalb dürfe das Stück nicht mehr so heißen. Aber das macht ihm an diesem Abend gar nichts aus: Der junge Regisseur gibt beredt einige Anekdoten zum Besten und bringt die Leute wieder in Laune. Gegen Ende verrät er dann noch, dass er in Zukunft vorhabe, in seinen Arbeiten, „irgendwie“ politischer zu sein.



Mit „Irgendwie“, dem Wort, beginnt jeder Theaterprozess. Wenn ein Thema in der Luft ist, dann spürt man das, dann will man das greifen – irgendwie. Bevor ein Wort zu Papier oder eine Tat zur Bühne gebracht ist, sagt man oft „irgendwie“. Und irgendwie muss jetzt was Anderes her. Das Vorhandene fängt an zu stinken, nichts mehr zu sagen und – schlimmer noch – zu langweilen. Die vergangenen Jahre lang herrschte auf den bundesdeutschen Bühnen eine Harmonie, dass es nicht zu glauben ist, und eine Einigkeit darüber, dass das Leben an sich eine Zumutung sei und ihm beizukommen, wenn überhaupt, dann ausschließlich durch die Liebe möglich sei. Der so genannte Rückzug ins Private verhandelte leidenschaftlich familiäre und Beziehungsprobleme und rechtfertigte sich damit vor der öffentlichen Kasse, die ihn aushielt, dass man als Theatermacher Mensch sei und daher menschliche Probleme inszeniere, die Menschen angehen, alle, außer denen, die sich ausschlössen und unmenschlich würden. Ein Mensch, der ins Theater geht, sieht Menschen mit Schwierigkeiten, in denen er selbst auch steckt, und freut sich manchmal am Schluss, weil der Schuss fällt, den er daheim nicht wagt aus Angst vor Gefängnis. Jahrelang hätte das Theater als die institutionalisierte Demonstration existentieller Erbärmlichkeit noch so weiter werkeln können, wäre in den Zuschauern nicht ihre Sehnsucht nach Revolution erwacht, einer schönen, so wie früher beim Büchner, das war eine schöne Revolution auf der Bühne. So eine will man wieder sehen, vielleicht mit den Köpfen von heute. Irgendwie.



Man darf fragen, was das Theater überhaupt wollen kann. Hier handelt es sich um einen Ort der Privilegierten, der vom Staat bezuschusst ist. Deswegen kann es hier Freiheit geben, künstlerische. Man kann produzieren, ohne dumme Geschmäcklereien ständig und bedingungslos bedienen zu müssen. Das lädt ein zum Rumwurschteln im Elfenbeinturm. Andrerseits lässt sich auch schnell sagen, dass gerade dieser Zustand dazu verpflichtet, wenigstens ein bisschen, die fütternde Hand zu zwicken, eine kritische Stimme laut werden zu lassen, von neutraler Position aus. Diskurs wie in einem Platondialog oder Dostojewski-Roman kann nicht durchgeführt werden, dazu fehlt der Raum. Die Wirklichkeit auf der Bühne ist immer eine vereinfachte, die Welt ist angerissen, und der Zuschauer muss sie sich assoziativ zu Ende denken. Sieht er einen Schauspieler im Anzug mit Aktenkoffer, muss er denken: Ah, Manager, McKinsey, Ackermann, Heuschrecken, Scheiße, Arschloch und so weiter. So funktioniert das ganz gut. Natürlich muss man immer noch polarisieren, nicht dass am Ende vor lauter Differenzieren am selben Problem alles egal wird. Einerseits gewissenloser Macher, andrerseits Familie daheim zum Ernähren, einerseits große Liebe, andrerseits Verantwortung für den Laden und die Arbeiter, einerseits Ungerechtigkeit, andrerseits das Prinzip seit dreieinhalb Jahrtausenden gleich und selbst nicht die Disposition zum Revolutionshelden. Das führt ins Unendliche, da gehört eingegriffen und mal ein klares Wort gesprochen. Das Publikum ist solange damit einverstanden, solange es das Gefühl hat, dass der Gedanke, der auf der Bühne ausgelegt wird, im Kopf des Regisseurs oder Dramaturgen weiter gedacht wurde, als es hier zu sehen ist.



Wenn man nur einige Inszenierungen der letzten Zeit anschaut, stellt man fest, dass die Welt als Planet und solche dem Theater wieder am Herzen liegt. An der politischen Durchschlagkraft muss manchmal noch arg gearbeitet werden, aber immer besser, das Maul ist schon mal auf, es könnte umgekehrt passieren, dass man was zu sagen hätte und es noch geschlossen wäre. Dann wäre die Chance vertan. Manche zerren ihre alten Stücke in die Gegenwart und weisen nach, wie viel Erkenntnis die damals schon hatten und wie wenig es gebracht hat, weil die Verhältnisse schon wieder so sind. Manche schreiben sich neue Stücke. Aber sie alle sind am Ball und sich ihrer Aufgabe bewusst, dass sie sich erklären müssen. Die Menschen betreten das Theater mit Fragen im Herzen und wollen weiterkommen im Lauf des Abends zu einer Erkenntnis im günstigen Fall, wie man sich der Welt und ihren Führern gegenüber stellen soll.

Das Elend im Osten



Thomas Ostermeier hat Schuldige gefunden und zeigt sie in seiner „Vor Sonnenaufgang“-Inszenierung an den Münchner Kammerspielen, indem er die Handlung in den fernen Osten verlegt und ein Märchen von der Ausbeutung der Näherinnen dort erzählt. Es ist erstaunlich, dass an dem Original von Gerhart Hauptmann kaum etwas geändert werden muss, damit der Text sich geschmeidig fügt in das neue Szenario. Es scheint, als seien die Umstände nahezu dieselben heute und zu Beginn der Industrialisierung. Und als ob das noch nicht genügte, ist der Regisseur dreist genug, nach der Pause in einer Videoprojektion einzublenden, wie wenig die armen Näherinnen verdienen an Adidas-Turnschuhen. Die Botschaft: Bitte nicht so werden wie die Familie auf der Bühne, sonst droht nicht nur körperliche „Degeneration auf der ganzen Linie“ durch „Suff, Völlerei, Inzucht“, sondern, viel schlimmer, moralische. Das hätte er in zwei Sätzen sagen oder ablesen lassen können, dafür hätte er keinen Zuschauer zweieinhalb Stunden einsperren müssen, wobei in dieser Zeit das Gefühl wächst, die Veranstaltung diene nur dem Zweck, möglichst als erster laut genug „Du“ zu sagen und den Zeigefinger irgendwohin zu richten. Frappierend, wie schnell die Welt in Gut und Böse aufgeteilt ist, und schlecht kann man was dagegen haben, außer man schlüge sich auf die Seite der Ausbeuter.

Der Konsens ist überwältigend und weit stärker als das Dunkle. Thomas Ostermeier wird viel gelobt für die Ware, die er da geliefert hat. Trotzdem soll mal jemand einhaken und darauf hinweisen, wie wenig er ästhetisch gewagt hat. In München waren bisher sein „Starker Stamm“, eine Produktion an den Kammerspielen, und die „Nora“, als Gastspiel von der Schaubühne Berlin, zu sehen. Hier, aber auch bei „Woyzeck“ und Sarah Kanes „Zerbombt“, das bald zu Besuch sein wird, ist es immer dasselbe: Das Stück wird gut behandelt und weitgehend so, wie es ist, gespielt – abgesehen von Verlagerungen ins Ausland oder in die Gegenwart –, dazwischen sind die Seelenzustände der Protagonisten bebildert, häufig in Tanzsequenzen, immer mit lauter Popmusik unterlegt. Das funktioniert immer, das sieht immer gut aus, und dennoch zieht sich Ostermeier langsam den Verdacht zu, ein Regisseur zu sein, der auf Nummer Sicher geht, der Angst hat zu versagen, auf den Kopf gehauen zu bekommen.

Zum Beispiel, wenn man sagt: „Uns geht es nur so gut, weil die da drunten für einen Hungerlohn schuften“, kann man das auch so sehen: „Weil die da drunten für einen Hungerlohn schuften, gehen bei uns die Arbeitsplätze verloren.“ Schon handelt „Vor Sonnenaufgang“ von der German Angst davor, dass dieser schöne Wohlstand, der dieses schöne Theater möglich macht und den schönen Menschen erlaubt, so schön zu sein, bald weg ist, in den Händen einer fremden Kultur, die damit nichts schaffen kann, was die Sinne so befriedigt, wie Thomas Ostermeiers „Vor Sonnenaufgang“. Das ist die totale Übergabe des Theaters in die Befindlichkeit des Kleinbürgers, daran ändert der magere Attac-Stand im Premieren-Foyer nicht nur nichts, dazu trägt er eher noch bei. Thomas Ostermeier ist noch kein Alter, aber er ist nicht leichtsinnig, er sichert sich ab. Was er wirklich meint, soll man nicht dem Geschehen da vorne entnehmen, sondern dem Interview mit ihm: „Asien hat ja viele Aspekte: die Tigerstaaten, die Angst, Deutschland werde mal zur Provinz eines großchinesischen Wirtschaftsreiches. Das ist alles Propaganda vom Feind, damit man die Sozialleistungen nach unten fahren kann und Deutschland auf Kurs bringt im internationalen Wettbewerb. Das nach Asien zu setzen, ist ja nur der Versuch einer subtilen Provokation, dass man vor denen Angst haben muss. – Subtile Provokation nenne ich es, weil ich selber den Gedanken nicht teile.“ Also andersherum: Ein westliches Bekenntnis zur Ausbeutung hülfe den jetzigen Näherinnen, weil sie für ihre Verhältnisse gutes Geld verdienen und sich nicht etwa prostituieren müssen stattdessen. Das klingt beinahe nach einer Lösung. Trotzdem ließen sich einige Kritiker subtil provozieren. Der der Frankfurter Rundschau schrieb: „Ostermeier aber meint das ernst. Zeigefingerernst. Message: Alles total global und ohne Moral. Aber dass die Globalisierung anno 2005 im Lidl-Markt um die Ecke beginnt, wo die Verkäuferinnen auch zwölf Stunden zu Dumpinglöhnen ackern, interessiert den Regisseur nicht. Er sitzt auf seinem pazifischen Eiland – und inszeniert damit 12 000 Kilometer an den hierzulande drängenden Fragen vorbei. Psychologisch ist das schlüssig, politisch ist es bedeutungslos.“ Und die Süddeutsche Zeitung meinte: „Auch Thomas Ostermeier gibt sich mit seinem globalen Zugriff auf ,Vor Sonnenaufgang’ politisch kritisch. Doch es bleibt beim Gestus, die Inszenierung selbst ist satt und selbstgefällig, ohne Brisanz und ohne jede Not.“ Da ist es jetzt tatsächlich passiert, dass der Regisseur durch das ganze Geflecht von Behauptung und Gegenbehauptung, äußerem Schein und subtiler Wirkung nicht mehr verstanden wurde. Aber es gibt Momente der Inszenierung, denen man trauen kann: Stephan Bissmeier spielt den Alfred Loth durchaus großartig. Ein schwacher Mensch, der seinen Idealismus als das einzige, was ihm geblieben ist, herumträgt wie den größten Schatz, obwohl er weiß, dass er nicht die Orange wert ist, die er von einer Buddhastatue stehlen muss, um nicht zu verhungern. Die Bühneninkarnation eines Albtraums deutscher Intellektueller, dem man sich ungern zugehörig fühlen will.



Opferstrategien – Verschwörungstheorien



Überhaupt die Kammerspiele. In der einen Spielzeit geht es um die zehn Gebote und die Religion, in der nächsten, vom Anspruch nicht kleiner, um Werte. Das Theater, so sieht es aus, will sich zu einer der großen ethischen Institutionen einer Stadt machen, obwohl es relativ wenig Deutsche erreicht. Anlässlich der „Nibelungen“-Premiere wurde vorgerechnet, dass das große Haus 10.000 Mal ausverkauft werden müsste, um einmal dieselbe Masse zu erreichen, wie es der Fernsehsender Sat1 mit seinem Montagabend-Zweiteiler desselben Titels tut – ohne einen anderen Anspruch als zu unterhalten, wenn es geht, und ausdrücklich auch ein ausländisches Publikum.

Der „Hamlet“ von Lars-Ole Walburg nimmt eine Menge Gegenwart in sich auf, um sich als 400 Jahre altes Stück heutzutage auf einer Bühne zu rechtfertigen. Der Fernseher kommt ebenfalls vor. Das Duell zweier Medien wird entschieden, indem das eine das andere in sich aufnimmt. Die Stimme des Vatergeistes kommt aus dem Kasten und auch das Schauspiel, das den Betrügeronkel entlarvt. Aber nicht der Mord wird gezeigt, sondern die Wahrheit über den 11. September 2001: Dass alles schon bekannt war, dass alles inszeniert war. Horatio kommentiert, es handle sich dabei um „Opferstrategien“. Opferstrategien – Verschwörungstheorien. Auch der Angriff auf Pearl Harbor sei kein überraschender gewesen. Die USA würden einfach von Zeit zu Zeit diese Technik benutzen, um jede Generation mindestens einmal einen Krieg erleben zu lassen. Behauptet Horatio. Diese Dinge, die hier beim Namen genannt werden, kämen einem tatsächlich fehl am Platz und dreidreiviertel Jahre zu spät vor, würden sie nicht als Elemente eines Paranoia-Mechanismus aufgezählt, der angeblich für unsere Zeit kennzeichnend ist. Die Geschichte ist reproduzierbar, weil sich immer wieder dieselben Methoden anwenden lassen, um zu einem ähnlichen Ergebnis zu kommen. Damit ist Geschichte auch beeinflussbar. Das ist ein Vorwurf an die heutige Hamlet-Generation. Sie müsste etwas unternehmen, weil sie den Ablauf des Bösen aufhalten könnte und sich nicht über das Fehlen eines Feindbildes beklagen dürfte, weil es doch hier im Theater vorgeführt wird. Genau hier beginnt das Problem der Inszenierung. Es hat keiner Lust, sich als Gesellschaftsgruppe analysiert, zum Handeln angeleitet und auf irgendetwas reduziert zu sehen. Jeder meint, vielschichtiger zu reagieren, komplexer gebaut zu sein als ein Furcht geformtes Wesen, das in einem Michael-Moore-Film vorgeführt ist.

Den Alten, repräsentiert durch Claudius, der in dem Fall nicht nur im Anzug steckt, sondern auch noch Giraffen- und Gazellenköpfe an der Wand hängen hat, sind die Jungen suspekt, indem sie sich zwar genau so benehmen, korrupt und intrigant, den Ablauf aber doch noch gar nicht kapiert haben können, weil sie sich immer noch von einem eigenartig diffusen Gerechtigkeitsinstinkt leiten lassen. Er sagt „Ich guck mir das nicht länger an“, steht auf und geht. Hamlet hängt fünf Bilder auf von George W. Bush in den fünf Sekunden, nachdem er, in einer Grundschule sich Geschichten von einer Ziege vorlesen lassend, Nachricht von den Anschlägen auf das World Trade Center erhalten hat. Ab der dritten Sekunde sei Schuld auf seinem Gesicht erkennbar, meint Hamlet. Horatio erklärt das anders: „Schuld ist nicht irgendeine administrative Macht, sondern das kapitalistische System, unser System.“ Deswegen also die allgemeine Lähmung, weil der Sprung übers eigene System so schwer fällt.

Lars-Ole Walburg führt einen Kommentator aus dem Off ein: den Sänger Dirk von Lotzow und seine Gruppe Tocotronic. Einmal wird die Musik nicht laut vom Band oder aus dem Fernseher abgespielt: Wenn Rosenkranz und Güldenstern Hamlet entgegentreten, befinden sie sich an Gitarre und Mini-Schlagzeug und singen „Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein. Und jede unserer Handbewegungen hat einen besonderen Sinn, weil wir eine Bewegung sind“ Arg albern mit den beiden als Rumpfband. Christoph Lusers Hamlet passt dazu. Er spielt sich als großer Macker auf, ist selbstverständlich noch zu klein für diese Posen. Dirk von Lotzow, an späterer Stelle vom Band: „Pure Vernunft darf niemals siegen. Wir brauchen dringend neue Lügen, die unsere Schönheit uns erhalten, uns aber tief im Inneren spalten.“ Zehn Jahre liegen zwischen diesem Text und der „Jugendbewegung“. Wirklich weiter ist er nicht. Natürlich muss ein Popsong simpel sein, um überhaupt etwas zu taugen, dennoch spricht hier eine Generation, die sich blöd stellen muss, um wahrgenommen zu werden, die sich romantisch stimmen muss, um etwas darzustellen. Dieser „Hamlet“ demonstriert eine Variante, wie ein differenzierter Diskurs im Theater heute zustande kommen kann. Gewaltsame Vereinfachung und das Heranziehen der naheliegenden und nicht unbedingt frischen Themen und Erklärungen rufen Widerspruch hervor im angeredeten Publikum. Wir funktionieren doch nicht alle so primitiv. Und schon befinden sich die Zuschauer in der schönsten Selbstreflexion.



Keine Arbeit, nichts zu sagen



Städtewechsel. Berlin. Das Deutsche Theater dort. Sein Spielplan strotzt nicht unbedingt vor Stücken zeitgenössischer oder junger Autoren. Deswegen wirkt Fritz Katers Leonhard-Frank-Weiterentwicklung „3 von 5 Millionen“ unter der Regie von Armin Petras in den Kammerspielen wie ein Alibi, die Pflichterfüllung einer Quote für aktuelle Themen. Die Personalunion Petras / Kater hat durchaus ein Anliegen: „Die Idee des Kapitalismus, so wie er im Moment existiert, ist für alle offenkundig grenzwertig geworden. Man kann sich nicht mehr einreden – wie vielleicht noch vor 15 Jahren –, dass es einen netten Kapitalismus gibt, wo jeder ein bisschen was abbekommt. Mittlerweile ist klar, dass das nicht funktioniert , dass die Konzerne da nicht mitmachen. Und plötzlich realisiert die Bevölkerung: Es wird nicht mehr lange so lustig sein, wie es jetzt ist. Ich habe es noch erlebt, dass Menschen versuchten, radikal an Politik Anteil zu nehmen. Heute passiert das aus einem Ohnmachts-Gefühl heraus nicht mehr. In unserer Gesellschaft war der einzige Gott jahrzehntelang das Geld. Jetzt erleben wir, dass es verschwindet, und wir erleben, dass Geld allein nicht zum Leben reicht.“ Dieser Gedanke sieht auf der Bühne dann so aus: Der erste Teil des Stücks ist die Dramatisierung der Romanvorlage „Von drei Millionen drei“. Drei Arbeitslose in den dreißiger Jahren verlassen ihre Heimatstadt Würzburg Richtung Südamerika, finden da mehr oder weniger ihr Glück und kehren schließlich heim. Zu zweit, weil einer sich unterwegs das Leben nimmt. Armin Petras’ Inszenierung stößt in neue Dimensionen der Niedlichkeit vor. Die drei Herren werden von drei Frauen gespielt und von einem schrägen, ringsgwandloiden Barden begleitet. Hunde laufen ihnen nach. Das sind Puppen, die eine Extra-Spielerin bewegt. Das mit putzig zu beschreiben, wäre zu schroff. Dafür bekommen sie keinen Zutritt auf die echte Bühne. Alles muss davor geschehen, an die Rückwand wird Landschaft in Gestalt von Computer-Knetmasse-Animation projiziert. Ihre Sätze von einst klingen jetzt nicht unrelevant: „Wenn links ein Fabriktor offen steht, sollten wir nach rechts gehen, denn es warten schon Tausende, die jünger sind wie wir.“ Der zweite Teil erzählt unabhängig von Leonhard Frank, wie es heute laufen könnte mit drei von fünf Millionen Arbeitslosen, wie sie, von Not getrieben, den einzigen Ausweg im Überfall auf einen Juwelierladen sehen. Hier ist ein momentan medienpräsentes Thema nur Anstoß zu einem Road-Movie im Theater, das sich schnell in Ereignis- und Belanglosigkeit verliert. Im Kino würde sich keiner mehr so etwas trauen. Fritz Kater hat erstens nichts zu sagen, zweitens nichts zu erzählen. Eine seiner Figuren beschreibt das treffend: „Jetzt waren wir wie alle geworden, aber nicht mal wie alle, weil alle mehr Geld, schönere Fraun und eine Option auf eine Doppelhaushälfte hatten. Nein, sondern weil sie alle eine Idee hatten, glaubten, eine Idee vom Leben zu haben, die es vielleicht ja in Wirklichkeit auch gab. Die wir jedenfalls nicht teilen konnten, nicht mal jetzt, wo wir unsere Träume längst in Umzugskartons verstaut hatten, die in Kellern unserer Ex-Freundinnen nass wurden.“

Ist das eine Unverschämtheit, dafür Kultursubventionen zu verlangen? Armin Petras beschreibt sein Vorgehen folgendermaßen: „Die Zeit der Zuschauer zu nutzen, ihnen meine Version von Welt zu zeigen, ist schon ein großes Vorhaben. Ich habe nicht vor, eine Botschaft zu verkünden. Ich finde es wichtig, auf ein Problem hinzuweisen.“ Das klingt unverbindlich. Eine Reaktion wäre erwünscht, wird aber nicht verlangt, schließlich haben die Zuschauer schon Eintritt gezahlt. Dennoch ist diese Unaufdringlichkeit bereits wieder Teil eines Plans. „3 von 5 Millionen“ ist nichts anderes als eine höchst kunstvolle Weise, Sprachlosigkeit zu formulieren. Das sind Zahlen, die nichts sagen, so oft auch von ihnen die Rede ist. Was wollt ihr denn damit? Armin Petras inszeniert eine subversive Harmlosigkeit. Arbeitslosenelend wird der Statistik entrissen und Teil virtuosen, fast fernsehtauglichen Entertainments. Die Frage, ob man das sehen will, stellt sich erst, wenn man es sieht und zwar im Theater und nicht im Fernsehen, wo dieser Sozialvoyeurismus ständig praktiziert wird und mittlerweile auch diskutiert. Dort liegt der Reiz immer in der Authentizität, im Bewusstsein, dass das Gezeigte echt ist und somit geil. Theater kann keine Sekunde so tun, nicht das Theater, das Armin Petras vorführt, und kann doch genau so die Wertlosigkeit der Bilder, auch der im Fernsehen, beweisen.

Die Verweigerung, sich in etwas zu vertiefen, ist Ausdruck eines Glaubens an eine größere Sache: die Macht des Lachens. Es wird so lange gewitzelt, bis die Verzweiflung offen liegt. Die Resignation treibt einen in den Scherz. Das erinnert an den Nachkriegs-Karl-Valentin, der von der Lage humoristisch überfordert war und der ihr doch nur so begegnen konnte. Ob das allerdings noch nötig war, bleibt zu diskutieren, aber gut, dass es hier mal einer zu einer heutigen Position gemacht hat. Sonst ließe sich am Ende den Theatermachern Unvollständigkeit vorwerfen in der Aufarbeitung der Gegenwart.



Ein ähnliches Anliegen veranlasst das Regisseurs-Kollektiv „Rimini Protokoll“ zu ihrer Aktion „Sabenation. Go home & follow the news“. In dem Fall sind es sieben von 12.000. Echte Arbeitslose, entstanden bei der Pleite der belgischen Fluggesellschaft Sabena. Hier live zum Anschauen und bei Bedürfnis auch zum Anfassen, tourend durch Europa. Sie erzählen aus ihrer realen Biographie, nichts erfunden, nur ein bisschen gedreht, damit keiner einschläft. Der eine bewirbt sich zig Mal mit einer anderen Krawatte, demonstriert wie er den Rest seiner Zeit sinnlos in seinem Haus auf- und abpatrouilliert und „relaxierende“ Musik auflegt, gelegentlich und auf Anweisung der Ehefrau immer häufiger draußen mit dem Hund spaziert. Der andere muss nun auf schnelle Autos verzichten und sich als Marsupilami-Comic-Figur verkleidet mit bescheuerten Kindern fotografieren lassen. Die gewesene Stewardess gibt Kurse, in denen solchen wie ihr beigebracht wird, wie man sich bei Vorstellungsgesprächen, die möglicherweise nie zustande kommen werden, verhält. Verrückt. Noch abgefahrener: Die Tischtennismannschaft von Sabena existiert weiter, obwohl die Firma aufgelöst ist. Ein ehemaliger Mitspieler erzählt das. Er durfte nicht mehr mitspielen wegen seines Rückenproblems. Na und? So viel richtiges Schicksal, das schlägt jede Doku-Soap. Verstärkt durch Besonderheiten des Theaters. Die Protagonisten müssen sich nicht in ihrer Lebenswelt bewegen, sondern auf der Bühne, was bedeutet, dass sie, während sie sprechen, die Sinnlosigkeit ihres momentanen Daseins ausdrucksvoll demonstrieren können. Das Haus, in dem der eine ziellos marschiert, hat er zuvor mit Klebeband auf den Boden skizziert. Das wären daheim Küche, Ess- und Schlafzimmer, hier sind es nur Streifen aus Papier. Tischtennisbälle werden aus eines Ballmaschine geschossen und vom Fänger in Eierschachteln sortiert, bevor damit der Apparat neu gefüllt wird. So leer alles. Glücklich sind nur wenige überhaupt, wenn sie nicht merken müssen irgendwann, dass, wofür sie leben, keine Illusion ist, vergleichbar der, der Arbeiter einer Fluggesellschaft erliegen, indem sie glauben, es stifte einen Hauch von Sinn, daran mitzuschaffen, Passagiere von einem Ort zum anderen zu bringen. Das ist der vom „Rimini Protokoll“ erzeugte Maßstab, der an die Zuschauerleben gelegt wird. Wenngleich sich das Theater hier über das Durchschnittsdasein ideologisch erhebt: Die sieben bei „Sabenation“ Ausgestellten haben die nervenraubende Job- und Sinnsuche zumindest für die Zeit der Tour hinter sich gelassen, haben neuen Spaß und Halt gefunden und verhöhnen oder – positiv gesehen – stacheln ihre Leidengenossen durch den theatralen Akt an. Rissen alle Stricke, könnte jeder sein Elend noch künstlerisch verwerten, bevor er verfallen muss. „40 Prozent der Menschen genügen, um 100 Prozent aller Arbeit weltweit zu erledigen“, wird vorgerechnet. Die restlichen 60 Prozent sollen Theaterstücke darüber machen.

Das tatsächlich Interessanteste an der Angelegenheit ist die absolute Glaubwürdigkeit, die sie herstellt. Die da vorne könnten die wildesten Geschichten erzählen, und keiner würde wagen, daran auch nur leise zu zweifeln. Machen sie aber nicht, lassen sie das komplette manipulative Potenzial völlig ungenutzt liegen, weshalb das Ganze eine schöne Idee ist, die bei der Umsetzung erbärmlich zäh gerät. Gewöhnliches Theater hat den Vorteil, dass irgendwann etwas passiert und wenn nicht, dass daraus dramaturgisches Kapital geschlagen wird. Hier haben Leute weiter keine Arbeit, und solange es jemand hören will, berichten sie davon auf einer Bühne der Welt.



„Wir leben davon, dass wir uns ein Leben vorlügen.“



Den meisten ernsthaften politischen Auseinandersetzungsversuchen ist gemein, dass die Suche nach einem Feindbild eine Suche nach einem Schuldigen ist an diesem Zustand jetzt, der aus diversen Gründen nicht passt, nicht so bleiben kann, wenn die Menschheit ihr Gesicht wahren will vor der Generation, die sie als nächste hervorbringt. Dadurch wird das Theater zu einer moralischen Instanz, die sich die Unterscheidung zwischen Gut und Böse anmaßt wie die Religionen. René Pollesch hat bemerkt, dass das nicht einwandfrei ist: „Das Problem ist, dass politisches Theater noch immer als Repräsentationstheater gemacht wird, in dem Kritik einfach nur Verabredung ist, in dessen Produktionsprozess sich aber keiner kritisch verhält. Kritik bloß als Oberfläche sozusagen.“ Thomas Ostermeier rechnet genau vor, wie wenig eine Näherin in Asien an einem Turnschuh verdient, und vergisst, dass hinter seinem Rücken eine Handvoll Praktikantinnen diese Aufführung möglich machten für nicht viel mehr als die Ehre, dabei gewesen zu sein bei Thomas Ostermeier. In seinem theatralen Mikrokosmos hat er die Hierarchien wiedergeschaffen, die er anprangert, und sich selbst an die Spitze befördert. Der Prozess hat das Ergebnis hinters Licht geführt, aber die Aussage bestätigt. „Ausgerechnet dem Künstler, der doch so kritisch ist, fällt es am schwersten, darüber nachzudenken, warum er zum Beispiel selbstausbeuterisch arbeitet.“ Da hatte René Pollesch schon was erkannt. „Ich brauchte damals Gegner, und als ich noch keinen Erfolg hatte, war Ostermeier mein Feindbild. Weil er behauptete, auch mit einem One-Room-Flat-Drama könne er etwas über Globalisierung sagen. Da hab’ ich gesagt, über Globalisierung kann man nur erzählen, wenn es sich als Wohnproblem darstellt; wenn ein Hotel Zuhause produziert; wenn man nicht mehr weiß, ist man hier am Arbeitsplatz oder zu Hause.“

Der Ex-Gegner hat, als er 2004 das Programm beim Theaterfestival in Avignon mitgestalten durfte, René Pollesch eingeladen, um dem französischen Publikum zu zeigen, was auf deutschen Bühnen passiert. Nach außen hin sieht es so aus, als ob wenigstens die Welt im Theater in Ordnung sei, die Welt aus dem Theater heraus verbessert werden könnte. „Weil eben jemand wie Claus Peymann nicht als Einpeitscher oder als Tyrann rüberkommt, sondern als kritischer, linksorientierter Regisseur“, sagt René Pollesch. Deswegen sind hier Verbrüderungen möglich, die sonst nicht denkbar sind. Die abgefederte Realität. „Das Theater ist eben ein Biotop, in dem ich die schönsten Entwürfe erfinden kann. Ich muss sie aber nicht überprüfen, sie müssen nicht den Alltagstest bestehen. Nur mein Theater muss voll sein, das genügt. Wir leben davon, dass wir uns ein Leben vorlügen. Ich musste unser Wirtschaftssystem nie grundsätzlich durchdenken. Es war immer klar, ich bekam die dickste Gage, aber gegen den Kapitalismus war ich trotzdem immer. Diese Grundverlogenheit hat mich immer daran gehindert, meine Träume aufzugeben“, das gibt Claus Peymann zu im Jahr 2005, wehrt sich gar nicht gegen Polleschs Vorwurf und fährt fort: „Es ist etwas faul im Staate Dänemark, davon können Sie ausgehen. Aber was würde passieren, wenn man sich auf den Weg machte, hinter die Tarnung zu blicken, nach dem Motto: Claus Peymann sucht einen Schuldigen? Ich würde auf einen Mann wie den ehemaligen AEG-Chef Dürr treffen, Arbeitgeber für viele hunderttausend Mitarbeiter. Und? Reizender Mann! Fördert in seiner Freizeit die Thomas-Bernhard-Gesellschaft. Was soll ich gegen den sagen? Die Zeiten, in denen Brecht den Zigarren rauchenden Fabrikbesitzer als Feind ausgemacht hat, sind vorbei. Ich bin überzeugt, wenn ich in Detroit den General-Motors-Mann besuche, der in einem Handstreich Städte wie Rüsselsheim oder Bochum platt macht, dann ist der sicher auch nett und klug. Dieses System hat sich hinter einer Struktur versteckt, die Tarnung ist perfekt.“

Ohne jemanden zu schinden, hat dieser Intendant die umstrittenen „Dresdner Weber“ zum Gastspiel ans Berliner Ensemble geholt, während in anderen Häusern der Stadt das Theatertreffen lief. Er hat provoziert durch den mitschwingenden Vorwurf, die Jury habe sich gescheut, die Diskussion über die Inszenierung auf der Leistungsschau zustande kommen zu lassen, indem sie sie nicht eingeladen hat. Doch am Ende war die Aktion nur dazu gut, die Reihen des Berliner Ensembles zu füllen mit enttäuschtem Festivalpublikum, und Shakespeare dient nur dazu festzustellen, dass da irgendetwas grundsätzlich nicht stimmt. Politik macht Publikum. Mehr nicht. Claus Peymann hat mit einer parallelgeschalteten „Andorra“-Premiere bewiesen, dass sein Biotop hypertrophiert und umgekippt ist. Der Abend könnte bestenfalls noch als Geburtsstunde eines neuen Theaters der Zahnlosigkeit in die Geschichte eingehen. Max Frisch hat seinerzeit „Andorra“ geschrieben, worin es, grob gesagt, darum geht, dass Vorurteile anderen gegenüber problematisch werden können. Genau so viel steckt auch in der Peymann’schen Wort-für-Wort-Umsetzung. Nun dürfte diese Erkenntnis dem durchschnittlichen BE-Gänger bereits seit seiner Gymnasialzeit fest ins Bewusstsein zementiert und demnach überflüssig wie die Erfindung der Dampfmaschine im 21. Jahrhundert sein. Doch der Peymann wird weitermachen. Er hat seinen Vertrag bis 2009 verlängert und angekündigt, es gehe ihm auch in den kommenden Jahren um „Theaterspielen gegen den Zeitgeist, verbunden durch eine gemeinsame politische und ästhetische Idee.“



Der Prozess



Man kann die schönsten Dinge behaupten, dieselben aber nicht umsetzen, weil die Struktur eines modernen Theaterbetriebs es nicht erlaubt. Wenn man diesen Umstand als gegeben hinnimmt und ehrlich als sein Dilemma zugibt, verliert man nach und nach den Biss und damit auch die Glaubwürdigkeit. Die Einsicht allein bringt nichts auf Dauer. Das lässt jemanden wir René Pollesch unbefriedigt. Er versucht in einem neuen Ansatz, seine reale Umwelt, die zu einem Gutteil einfach das Theater ist, in seine Stücke einzubauen, in einer Meta-Ebene die Aufführung selbst zu reflektieren: „Ich kann nur von der Wirkung reden, die unsere Abende auf mich haben. Diese Wirkung ist für mich vor allem die Verzweiflung über ein Thema, das sich nicht genau abgrenzen lässt, dem man sich aber von allen Richtungen zu nähern versucht. Im konventionellen Theater funktioniert das bei mir nicht: Wenn Ophelia wahnsinnig wird und Gänseblümchen pflückt, ist mir das scheißegal.“ Sein Theater ist also wieder eines der Verzweiflung. Der Verzweiflung über die Unvereinbarkeit der Lösungsvorschläge, ein Integrationsproblem. Privates mischt sich unaufhaltsam und ständig mit Politischem, obwohl sich beides eigentlich gegenseitig ausschließt. Konsequent zu sein, hieße verrückt über die Unmöglichkeit zu werden, ein Leben nach irgendeinem Grundsatz führen zu können. René-Pollesch-Abende sind angenehm hysterisch, aber sie tragen in ihrem Sarkasmus eindeutig nicht die Handschrift eines Verrückten und sind somit ebenfalls Abende konsequenter Lüge.

Auch hier wird Fernsehen gespielt, aber so, dass es ins Konzept passt. Im Prater der Berliner Volksbühne hat Bert Neumann eine Fassadenstraße aufgebaut. Die Schauspieler befinden sich die meiste Zeit hinter den Wänden in den fünf Teilen der „Prater-Saga“, die so tut, als sei sie eine Telenovela. Zu sehen ist nur, was eine Kamera im Inneren filmt und an eine Projektionsfläche an der Außenwand geworfen wird. Man ist live dabei, bekommt aber hauptsächlich Bilder aus zweiter Hand – das Gesprochene ist unverstärkt aus den Kulissen-Häusern zu hören. Der Text ist eine Assoziationskaskade, der man schwer im Ganzen folgen kann, die aber in ihrem irren Stakkato immer wieder überraschend wahre Sätze auswirft. Eine Souffleuse bewegt sich permanent mit auf der Bühne und demonstriert, dass den Schauspielern der Text auf den Proben nicht immer präsent wahr. Die sind im geschriebenen Stück beim Namen genannt, ihnen ist es in den Mund gelegt, aber nicht ihnen als Privatpersonen, sondern in ihren Rollen. Sie zitieren sich und lügen dabei, denn sie wurden schon als Urheber von Sätzen festgehalten, bevor sie sie gesprochen haben.

Das Stück „Pablo in der Plus-Filiale“ spielt in denselben Bühnenbild. Hier entsteht die wahnsinnige Zwickmühle durch die Erkenntnis, dass die Globalisierung bereits in der Nachbarschaft anfängt und der normale Verbraucher sich schon beim Griff an die Seifenpackung schuldig macht. Es gibt keinen Ausweg außer dem Konsumverzicht, der den Tod zur Folge hätte, so wie jeder auch nicht verhindern kann, täglich zum Mörder zu werden, weil das eigene Immunsystem unzählige Mikroben killt. „Wir reißen uns unsere Raubkopien vom Leib, Pablo, und ficken hier mal schnell, wie wär das?“ oder „Ich muss hier dauernd irgendwas auf den Müll werfen, um noch irgendwie glücklich zu sein. Aber muss diese Intensität ewig so weitergehen, können wir nicht, uns ganz bürgerlich zurücklehnen ohne Intensität?“ Der Verantwortliche für den Dreck und die Ungerechtigkeit auf der Erde ist schnell gefunden und man selbst, die eigene Schwäche, einfach nicht krepieren zu können. Und das macht krank und lässt einen aus der Haut fahren. „Pablo in der Plus-Filiale“ verbietet seinen Schauspielern anschließend an die Aufführung nicht den Besuch eines Discount-Supermarkts, genauso wenig den Besuchern, die ihr Theater halbwegs ernst nehmen. Das Stück will die Welt nicht verändern, es weist auf ein Problem hin und wäre genau da, wohin Armin Petras sein Theater bringen wollte. Es lässt denen, die es konsumiert und produziert haben, aber auch die Schuld an der Misere, nebenbei auf die Unlösbarkeit des Konflikts mit starken Sätzen pochend. „Unsere ungeregelte Liebe absorbiert den Schock der Globalisierung und deshalb muss die Scheißliebe aufhören! Damit muss jetzt Schluss sein. Nicht mit deinen Verbrechen, die können ruhig weitergehen. Deinen persönlichen Verbrechen, oder meine an dir oder wie der Lidl-Chef Dieter Schwarz das Gesetz umgeht. Das muss alles weitergehen. Nur die gegenseitigen humanitären Aktionen, die müssen aufhören. Sag mir, dass du nicht mehr für mich sorgst!“ Der Mensch ist Abbild der Gesellschaft, die er bewohnt, die Aufführung des Prozesses bei ihrem Zustandekommen. Nichts existiert hier auf der Bühne unabhängig von dem davor oder dahinter. Deshalb darf man vermuten, dass zum einen René Pollesch den Lidl-Chef nie getroffen und sich von der persönlichen Vortrefflichkeit jenes Menschen überzeugt hat, zum anderen dass diese Rede wörtlich zu nehmen ist.

Hier schafft es Theater, inhaltlich und formal die Aporie der Zeit zu reflektieren, ist ihr weder hinterher noch voraus, sondern genau auf ihrer Augenhöhe. Was besonders unerlösend ist, weil die Stimmung depressiv und nicht euphorisch wie zur Wende ist; man befindet sich in der Erwartung der nächsten, deren Kommen gefühlt, deren Zeichen aber noch nicht ausmachbar sind. Das mag die momentane Leistungsgrenze sein: die Beschreibung eines Zustands, ohne eine konkrete Lösung anzubieten. Mehr darf man nicht verlangen, weil sich auch sonst niemand in der Gesellschaft traut, eine Utopie zu formulieren. Diese Versuche haben in der Vergangenheit oft genug nicht funktioniert, als dass man darauf noch vertrauen könnte. Es nun erneut auf der Bühne zu wagen, könnte am Ende heißen, heillos naiv zu wirken und sich lächerlich zu machen.



Leitende Epigonen

Dennoch: So umtriebig es gerade auf dem politischen Parkett zugeht, so wild behandelt auch das Theater dieselben Themen. Es wendet sich nicht ab, was zunächst eine schöne Sache ist. Der deutsche Theatermacher ist streitlustig und bereit mitzumischen. Ärgerlich nur, dass er sich dumm stellt und der Zuschauer schnell den Eindruck bekommt, für genauso dumm gehalten zu werden, und intellektuell bald verhungern zu müssen. Das kann zu einem Problem ausarten, weil es das Theater als öffentlichen Diskursraum weiter in die Bedeutungslosigkeit drücken wird.

Theater ist zweifelsfrei Luxus, und es ist guter Luxus, wenn die materiellen Ressourcen, die dafür aufgewendet werden, ein Bruchteil der geistigen sind, die darin verschwendet werden. Der Bürger liebt sein Theater, wenn mit den intellektuellen Kapazitäten am Haus ein Krebsforschungszentrum internationalen Ansehens betrieben werden könnte, nicht, wenn es kaum für eine Müllsortierungsanlage ausreicht.



Ein naheliegender Erklärungsversuch für die allgemeine Unreife bei der Auseinandersetzung ist, dass die jetzige junge Regiegeneration sich nie von der vorhergehenden abgrenzen wollte, weil sie einverstanden ist mit Castorf, Kriegenburg und Pucher. Formal. Und inhaltlich musste man mit denen auch nie so streiten wie die mit ihren Alten Dorn und Peymann und die wiederum mit den Nazi-Regisseuren, die sie ablösten. Wer sich also nie aufgelehnt hat, konnte auch nie lernen, wie man den ideologischen Feind argumentativ niederringt. Das führt sogar so weit, dass ums Verrecken kein Feind mehr zu finden ist, respektive die Suche eingestellt wird, weil sie zu anstrengend ist und auf dem Weg und nahe das Bush-Amerika und die Globalisierung liegen, die Antipoden genug sind und für einen Theaterabend locker irgendwie taugen.



Irgendwie. Florian Fiedler wird gerade prüfen, ob sich seinem Theatermotor noch die ein oder andere linksdrehende Schraube einbauen lässt, und ihm sei sein Blick mal auf die eigene Generation gelenkt. Darunter befinden sich genug im zarten Alter fett und faul Gewordene, die einmal attackiert gehörten. Zu einem Generationenkonflikt braucht es nicht immer zwei. Die Jungen sollen sich gegenseitig zerfleischen. Man darf nicht vergessen, dass Peymann und Dorn, als sie sich gegen ihre Vorgänger auflehnten, durchaus etwas zu sagen hatten und damit auch gehört wurden. Es gab eine Reihe von Regisseuren in den siebziger und achtziger Jahren, die dagegen nichts hatten, die auch heutzutage noch inszenieren, aber nie wirklich interessant waren. Nettes Handwerk. Jetzt scheint sich dasselbe bei der Regisseursgeneration, die vor zehn, fünfzehn Jahren Furore machten mit ihrem Neubeginn, zu wiederholen. Ohne die Leistung eines Frank Castorf herabzusetzen, müssten sich die, die das Theater erneuern wollen im Augenblick, gegen ihre Altergenossen wenden, die den Stil ihrer Vorbilder kritiklos nachahmen. Der Weg zur Relevanz führt über die ästhetische Abgrenzung, alles andere unweigerlich in Langeweile und inhaltliche Leere. Siehe Peymann. Wenn aber einer seinem Zuschauer einmal das Gefühl gibt, so etwas wie heute Abend noch nie gesehen zu haben, dann hat er auch sein Ohr erobert. Und dabei geht es, wie gesagt, nicht darum, alles zu Ende zu denken, sondern maximal darum, im Bürger einen Prozess zu initiieren, der denselben wieder zum mündigen werden lässt. Die Kriege und Rivalitäten sollen zurück auf die Bühnen und müssen zwischen ihnen ausgetragen werden, damit in der Welt draußen weniger stattfinden.

Florian Fiedler hat gespannt gemacht.



Willibald Spatz

Mehr Texte