Die großen Kleinen
Avignon-Public-Off 2004

Das Schöne am Theater ist, dass es so demokratisch ist: Jeder kann, wenn er ihn hat, seinen Zuschauer zwei Stunden komplett verzaubern, ihm die eigene Phantasie zur Realität werden lassen. Vorausgesetzt, man ist sich seiner Möglichkeiten bewusst. Avignon hat parallel zum großen Festival das Glück eines kleinen für Off-Theater, auf über 70 Bühnen 400 Produktionen, bei erträglichen Preisen und Temperaturen eine saubere Alternative: Ab zehn Uhr in der Früh die Möglichkeit, Kraft zu tanken für den Ärger und die Langeweile, den die Profis abends teilweise zubereiten. Überrascht im ersten Moment das hohe Niveau überall, erscheint es im zweiten logisch, denn alle, die hier agieren, spielen, obwohl sie wissen, dass es nicht so ist, als ob es das letzte Mal wäre; allen Mitglieder aller Ensembles ist die gemeinsame Sache gleich wichtig: der Brennpunkt in der Seele.
Nach einem ersten Blick in das arg unübersichtliche Programmheft scheint Lottospielen leichter zu sein als eine interessierende Aufführung zu finden. Ein zweiter allerdings auf die mit Myriaden von Plakaten tapezierten Straßenwände und die in Scharen auf Passanten zurollenden Schauspieler, die Avignon im Sommer in eine der flyerreichsten Städte Europas verwandeln, lässt eine Struktur aufblitzen und es zu, eine Strategie zu entwickeln: die Aufdringlichen, schrill Verkleideten und die, die mit Photographien werben, meiden.
Konkret: An seine Grenzen, stellenweise auch darüber, stößt Nés sur le trottoir dŽen face... im Théâtre le Forum. Das Stück von Cyrcé de Claujacq handelt von einem Mann, der einen Einbrecher anschießt, ihn in der Wohnung gesund pflegt und ihm dabei seine Welt öffnet. Der kleine Raum erlaubt, auf der Bühne ein Wohnzimmer einzurichten, in dem der Zuschauer als Besucher gleichsam Platz nimmt, dabei ist als unsichtbares Auge. Obwohl die beiden Akteure sich redlich abmühen, wird schnell offensichtlich, dass diese relativ stereotype Geschichte nur mit Schauspielern erzählbar ist, denen man blind alles glauben will, mit Amateuren wird es zäh streckenweise, jedoch nicht ärgerlich.
Anders als die Kollegen an den hohen Bühnen haben die Jungen den Humor nicht verbannt. Das Théâtre de lŽOrange Bleue versucht mit La Farce de Maître Géronte Lejaloux von Mathieu Marciliac an den kitzligsten Punkt zu langen. Erzählt wird hier von einem Alten mit einer zu jungen Frau, der vom ersten Auftreten an eigentlich der Diener gehören müsste. Das temporeiche, körperbetonte Spiel trifft an der richtigen Stelle: Gelacht wird, bis Tränen kommen, Spaß schwappt rüber, dass es brennt.
Diese Commedia dellŽ Arte-Tradition wirkt noch sehr lebendig im französischen Off-Theater. Auch in der intelligenten Schuld und Sühne-Bühnenversion der Gruppe Les 3 Clefs du Saphir spielt das Ensemble ungeheuer präzis, steigert das Tempo auf schwindelerregende Gipfel, lässt hauchartige Berührungen des Mitspielers am eigenen Körper zu Saltos explodieren und schafft doch eine Gänsehaut der Ergriffenheit in den entscheidenden Minuten der zwei Stunden Erzählzeit. Mehr kann keiner vom Theater verlangen, will er auch nicht, wenn er zurück ans Tageslicht tritt.
Ganz im Gegenteil langsam setzt die Compagnie La Clé Des Planches den Dom Juan von Moliére um. Ein roter Teppich füllt den Boden, die Figuren sitzen daneben auf Stühlen und warten auf ihren Einsatz. Hier erfreut die Originalität der Bewegungen: Zwei rivalisierende Frauen gehen aufeinander los, doch aus dem erwarteten Schlag ins Gesicht wird ein heiterer Tanz. Bilder aus Körpern gebastelt, zum Verlieben.
Nach wunderbaren Stunden im Intimen keimt natürlich die Frage lauter, wohin die Kulturmillionen gekippt gehören. Nahezu jeder Beruf in einem Theaterhaus ist erlern- oder studierbar, trotzdem passiert es immer wieder, dass das tollste Ensemble einen langweiligen Riesenmist abwirft, wenn der denkende Kopf an der Verantwortungsspitze ein Idiot ist. Dagegen hat der größte Dilettant die Gewalt, wenn er Gespür und Verstand besitzt, grundauf glücklich zu machen. Eine verrückte Welt ist das. Das Theater.

Willibald Spatz
15. Juli 2004

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