Der letzte Graben
Avignon 2005 aussitzen


Neulich, im Mai, wir waren in Berlin und hatten eine Arbeit – wir hatten dem Theatertreffen ein Blatt zu produzieren, das, alle drei Tage achtseitig der Berliner Zeitung beigelegt, dem Berliner Bürger berichtet, was in seiner Stadt ab- und ihm entgeht, weil er sich zu spät oder gar nicht für Karten angestellt hatte. Wir waren unabhängig und zu einer kritischen Haltung angehalten, um von vornerein allen Kritikern das Brot vom Teller zu nehmen, die gesagt hätten: Da macht sich eine Institution – das Berliner Theatertreffen – seine eigene Zeitung, die dann nur gut schreibt und alles irgendwie super findet. Wir also interviewten Regisseure und Schauspieler, besprachen Aufführungen, erlebten Premierenparties und gaben unsere Eindrücke wieder. Wir hatten es zu tun mit keinem überdurchschnittlichen deutschen Theaterjahrgang, aber einem soliden: Wir hatten Nibelungen aus München, einen Othello aus Hamburg, einen Berliner Schlingensief und Elementarteilchen aus Zürich. Man konnte der Jury selbstverständlich viel vorwerfen, viel vergessen und ignoriert zu haben, aber sie hatte durchaus eine Auswahl getroffen, die das, was auf den Bühnen der 82 Millionen zur Zeit passiert, angemessen spiegelt. Dachten wir.
Dann waren da parallel zu uns, im sogenannten Forum, junge Theatermacher aus der ganzen Welt zu Gast, die sogenannte Workshops machten zwei Wochen lang und sich anschauten, was die deutsche Kritiker für bemerkenswertes Theater halten. Und sie mussten uns einmal für die Zeitung erzählen, was sie denn von dem halten, was sie sehen hier. Man kann das gern nachlesen auf www.festivalzeitung.de, man muss dazu aber sagen, dass das Wort „Scheiße“ in der gedruckten Form weit seltener vorkommt als es fiel im Gespräch, dass es aber ganz gut zusammenfasst, was die jungen Leute vom deutschen Theater hielten nach zwei Wochen Schauen.
Wir waren deswegen nicht beleidigt, nein, ein bisschen verwirrt vielleicht, und fragten uns ernsthaft als Nachwuchskritiker, ob wir denn Scheiße vor unseren Augen gar nicht erkennen können, nicht einmal am Geruch, und am Ende nicht fähig sind zu einem Urteil, weil wir dieses Theater schauen, seit wir Theater schauen und nicht wissen, wie es wirklich ginge. So weit Berlin.
Im Juli Avignon. Theater schauen im Ausland, damit man das kennenlernt. Und auch wenn man dort mehr internationales Theater sieht, geht es um französisches Theater. Avignon ist die Leistungsschau des französischen Theaters. Was uns nicht gefällt, weil die Franzosen im Schnitt keine Ahnung haben vom Theatermachen. Das ist ganz schlimm. Man konnte das im Sommer ausführlich und überall lesen, aber es sei an dieser Stelle ruhig noch mal wiederholt: Das französische Theater liebt das Wort, Stücke werden prinzipiell nicht gekürzt und von sehr gut ausgebildeten Schauspielern mit einem für uns un- oder bestenfalls schwer erträglichen Pathos deklamiert. Gelacht wird, vor man ins Theater geht oder danach im Restaurant, aber solange wir drin sind, herrscht Gottesdienstandacht, oder man haut ab.
Wir hatten heuer das Glück, Olivier Pys Stück „Les Vainqueurs“ zu sehen. Olivier Py ist in Frankreich ein angesehener Theatermacher, der seine eigenen Stücke schreibt und sie mit seiner eigenen Truppe inszeniert und dann damit durch Frankreich tourt. Das Letzte ist durchaus üblich in Frankreich. Nun hat Py sich vorgenommen, uns mit „Les Vainqueurs“ die Welt zu erklären und da er nicht unbedingt der Punkrocker des französischen Theaters ist, braucht er dazu ungefähr zehneinhalb Stunden. Man könnte jetzt viel schreiben, dass das Stück drei Teile hat und die in Paris an drei verschiedenen Abenden zu sehen gewesen wären, dass der mittlere am Besten war wegen der Show und dass das Ganze von einem Prinzen handelt und dessen Abenteuern bei der Verwandlung in eine Prostituierten. Das lenkt aber alles ein bisschen von der Tatsache ab, dass wir vergangenen Sommer an den Stadtrand von Avignon gefahren wurden, um zehneinhalb Stunden im Theater, was in dem Fall eine Schulturnhalle war, zu verbringen. Das heißt, wir waren im Sommer zehneinhalb Stunden im Theater in Avignon. Zehneinhalb Stunden, in denen anderswo Menschen Bäume gepflanzt, sich verliebt, einen Nachkommen gezeugt, eine Brücke gebaut haben. Wir saßen im Theater und verwandelten uns, schrumpften, vergaßen, das wir unter allen anderen Umständen Hunger und Dust gehabt hätten, aufs Klo gegangen wären, jemandem etwas mitgeteilt hätten. Wir wurden kleiner und waren am Ende lediglich ein Auge, das Theater schaut, mit einem bisschen Hirn, das nur für das, was da gerade auf der Bühne passiert, aufnahmefähig ist. Und es war großartig, nicht nach fünf Stunden, auch nicht nach sieben, sondern am Ende.
Am nächsten Tag hatten wir „Hamlet“ von Shakespeare, der, nebenbei bemerkt, völlig überschätzt ist, inszeniert von Hubert Colas, mit einer Pause und damit der einzigen Chance zum Bier zu fliehen, nach vier Stunden. Wir blieben, und plötzlich ist schon wieder etwas passiert: Es hat uns geknackt, das französische Theater, war auf einmal wirklich gut, das da vorne, nicht mehr zu viel Gefühl, zu wenig Humor, sondern genau passend.
Und es fiel uns auch wieder ein, dass wir schon so oft Filme aus Frankreich gesehen hatten, neulich sogar zwei aus Ungarn, aber dort noch nie im Theater waren. Und wie selten waren wir in Berlin im Theater, obwohl es irgendwie ja auch Deutschland ist, aber wurden dorthin entführt im Fernsehen? Im Theater sprechen wir heutzutage, im 21. Jahrhundert, immer noch völlig verschiedene Sprachen in Europa. Wir sind uns noch so fremd wie vor der Erfindung des Düsenflugs. Wir sind noch in der Lage, kulturelle Vielfalt zu entdecken. In allen anderen Gebieten können die Bilder den Eindruck übermitteln, in einem Theater muss man sitzen, um zu fühlen, ob es einen Wert hat für einen. Und da es das nicht wirklich gibt, dass man regelmäßig Theater von anderswo in deutschen Städten sehen kann, muss man hinfahren, überallhin in die Welt und sich überall dort 15 Stunden ins Theater hocken. Man muss sich halt darauf einlassen, lange bevor man es versteht.
Die Forums-Frau aus Budapest hat am letzten Abend Berlin auf der Aufwiedersehens-Party gesagt, sie habe in Deutschland gelernt, wie man es auf keinen Fall machen dürfe, das Theatermachen. Das will ich sehen.

Willibald Spatz
19. Oktober 2005

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