Kulturfäule

Es hat keiner das Gegenteil behauptet. Unser Leben ist fad, schön fad. Gemütlich-gesättigte Langeweile. Es ist uns gelungen, oder wahrscheinlich der Generation vor uns, einen jahrhundertealten Menschheitstraum zu verwirklichen: In Ruhe gelassen zu werden dafür, dass wir in Ruhe lassen.
Und dann dieser Bundespräsident, der in seiner Farblosigkeit an sich gut in unser Bild passt, der uns anlässlich einer Rede zum 100-jährigen Bestehens des Schillermuseums in Marbach unseren Bohlen wegnehmen und stattdessen irgendwie Mozart als Vorbild setzen will. Aber erstens bedürfen wir keines Vorbilds, sondern ausschließlich und vor allem unserer Ruhe. Zweitens finden wir auch nicht alles toll, was dieser Bohlen angefangen hat. Diese Weibergeschichten sind beeindruckend, aber das Bücherschreiben und Plattenaufnehmen kann er allein machen, das ist uns zu viel Aufwand.
Herr Rau beschwert sich auch, dass wir nicht mehr die Zeit haben das Wort Kultur auszusprechen, sondern alles schnell zum Kult erklären, weil uns Fans offensichtlich die gesellschaftliche Beachtung fehle. Abgesehen davon, dass dieses Wortspiel angenehm unspektakulär ist, müssen wir jetzt schon einmal aufmerken. Uns unsere Schwäche auch noch vorzuwerfen! Wo wir doch wissen, wohin dieser Wahn, immer der Stärkere zu sein, in der Natur- und Menschheitsgeschichte geführt hat: zur Ausrottung ganzer Arten. Andrerseits, wenn man Bohlen wie Goethe in ihrer Fortpflanzerrolle als Vorbilder sieht, mag er Recht haben, der Präsident. Nur dieser Umtrieb ständig, wo doch die wahren Abenteuer im Kopf sind und sind sie nicht in deinem Kopf, dann sind sie nirgendwo. Bitte, wir haben doch auch heute noch Poeten und Philosophen, die letzten vielleicht.
Aber natürlich geben wir nach, weil wir die Klügeren sind und dann hat er Recht und wir wieder unsere Ruhe. Außerdem ist nächste Woche Revolution, heißt es, da machen die Studenten wieder was, da können wir das behandeln, wenn wir dazu kommen.
 

Willibald Spatz
12. November 2003

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