Die Torwand
Oliver Kahn zum 35. Geburtstag

Torwächter kassieren Bälle. Das ist normal. Sie sind es gewohnt. Doch es gibt einen, und das ist der der Deutschen, bei dem, wenn es passiert sein sollte, dass der Ball die Linie überrollte, das Gefühl aufkommt, es sei mehr in Unordnung als nach außen scheint. Es ist, als ob der Zeiger der Weltuhr ein wenig in Untakt geraten ist, als ob da etwas, das immer funktioniert und so sicher ist wie der Sonnenaufgang, kaputt ist. Der Mann vor seinem Tor: eine Wand, die die Angriffe der Feinde schluckt wie Limonade, deshalb komisch, zumindest verdächtig, wenn sich da ein Loch auftut.
Dieser Mann, Oliver Kahn, feiert an dem Dienstag (15. Juni 2004), an dem auch seinen ersten Einsatz bei der Fußballeuropameisterschaft hat, seinen 35. Geburtstag. Es mögen bei diesem Turnier der Beste und vor allem der Sport siegen, aber wenn noch ein Wunsch frei wäre, dann müsste Oliver Kahn, allein schon der kosmischen Ordnung zuliebe, aus dieser Begegnung, aus der Meisterschaft jungfräulich hervorgehen. Da könnten die Deutschen ruhig verlieren, nach der ersten Runde die Koffer packen müssen, Hauptsache, der Mann steht noch als reiner Torwarttitan im Fußballgedächtnis.
35 ist ein Alter, in dem man beim Anblick eines Fußballers schon an den nicht weit fernen Tag denkt, an dem er vom Spielfeld verschwinden wird und wieder auftauchen, vielleicht daneben, vielleicht an einem Mikrofon. Oliver Kahn hat bereits einen Versuch durchgeführt im Leben abseits vom Platz: Er hat ein Buch geschrieben. Zugegeben, dass selbst in Bekanntenkreisen die mittlerweile schwer zu finden sind, die das noch nie gemacht haben. Aber Oliver Kahn ist anders: Sein Buch ist keine Rache, ist kein Austeilen, sondern enthält die Gedanken und Reflexionen eines Menschen, der manchmal wirkte, als gehöre er allen, als dürfe jeder, dessen Wort gedruckt wird, schreiben, was ihm in den einfachen Sinn kommt, über den Torhüter der Nation ohne Rücksicht auf Privatleben und Gefühle, die auf dem Bazarteppich Deutschland scheinbar schamlos ausgelegt werden dürfen. Dieses Buch Kahn setzt eine Mauer dagegen, dieses Buch sagt: "Hier ist ein Mensch, an dem müsst ihr vorbei, wenn ihr rein wollt." Damit hat er viel geleistet, mehr als ihm im Moment bewusst sein wird. Was für ein Torwart!

Willibald Spatz
21. Juni 2004

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